Patentrecht

SEPs in der Liefer- und Verwertungskette

Ein Beitrag von RA Dr. Wolfgang Kellenter, LL.M. (LSE) und RA Axel Verhauwen

Die beiden Autoren RA Dr. Wolfgang Kellenter und RA Axel Verhauwen haben gemeinsam ein Referat auf den 19. Düsseldorfer Patentrechtstagen am 25. März 2021 gehalten. Das Thema betraf SEPs in der Liefer- und Verwertungskette. Schon auf den Düsseldorfer Patentrechtstagen aus dem Jahre 2018 hatten beide Autoren einen themenverwandten Vortrag zu dem Thema „Der kartellrechtliche Lizenzeinwand nach FRAND-Grundsätzen“ abgehalten.

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I. Sachverhalt und Fragestellung

1. Prozesssituation bei Non-SEPs

Um den Widerstreit zwischen kartellrechtlichen und patentrechtlichen Interessen bei der Geltendmachung von SEPs besser erfassen zu können, ist zunächst die Prozesssituation bei Non-SEPs zu betrachten, in der es sich mithin um die Geltendmachung eines „normalen“ Patentes handelt, das keine kartellrechtlich relevante Marktmacht im Sinne von Art. 101/102 AEUV vermittelt. Für nicht marktmächtige Patente steht es außer Frage, dass der Patentinhaber gegen jeden Patentverletzer bezüglich des patentgeschützten Gegenstandes oder Verfahrens Unterlassungsansprüche geltend machen kann (BGH GRUR 2009, 856 – Trip-Trap-Stuhl).

Daran wird die Reform im Rahmen des „Zweites Gesetzes zur Vereinfachung und Modernisierung des Patentrechts“ (Bundesrat Drucksache 517/21) nichts ändern. Denn auch wenn der Unterlassungsanspruch demnächst unter dem Ermessensvorbehalt besonderer Härtefälle stehen wird, dürfte auch in Zukunft der Unterlassungsanspruch nur unter ganz engen Voraussetzungen eingeschränkt und ausgeschlossen sein. Denn in der Gesetzesbegründung zu der Änderung des Wortlauts in § 139 PatG wird im Wesentlichen die Begründung des Bundesgerichtshofs aus der Entscheidung „Wärmetauscher“ (BGH GRUR 2016, 1031) übernommen, so dass Einigkeit darüber bestehen dürfte, dass die Gesetzesnovellierung nichts an der restriktiven Handhabung des Ermessensvorbehalts zur Einschränkung des Unterlassungsanspruchs in Härtefällen ändern wird (vgl. dazu Stierle, GRUR 2020, 262).

In dem „Wärmetauscher“-Fall des Bundesgerichtshofs ging es um einen „Nackenföhn“ (= Air Scarf) im Bereich der Kopfstütze für Cabriofahrer. Dieser „Luftschal“ erzeugt warme Luft, die gezielt dem Nackenbereich des Cabriofahrers zugeführt wird, um Nackenverspannungen durch Zugluft entgegenzuwirken. Nachdem das Landgericht Mannheim und auch das Oberlandesgericht Karlsruhe die Patentverletzung sowohl unter wortsinngemäßen als auch unter äquivalenten Gesichtspunkten verneint hatte, bejahte der Bundesgerichtshof durchaus zur Überraschung beider Parteien die in dem Verfahren eher stiefmütterlich behandelte Äquivalenzfrage zugunsten des Patentinhabers, so dass mit der Verkündung des Unterlassungsurteils am Ende der Sitzung, mithin am Sitzungstag, Daimler verpflichtet war, das Unterlassungsgebot sofort zu berücksichtigen. Daimler musste daher quasi über Nacht Herstellung und Vertrieb der patentverletzend bestückten Cabrios (SL) einstellen. Eine Aufbrauchsfrist wurde seitens des Bundesgerichtshofs explizit verneint. Weder der Gesichtspunkt der überraschenden Wendung des Prozessverlaufs noch der Umstand, dass der patentgeschützte „Luftschal“ nur ein kleinerer Bestandteil eines aus einer Vielzahl von Einzelteilen zusammengefügten Autos war, haben den Bundesgerichtshof zur Gewährung einer Aufbrauchsfrist oder zu einer Einschränkung des Unterlassungsanspruchs bewegen können. Vielmehr hat der Bundesgerichtshof betont, dass die Nachteile und Unannehmlichkeiten, auch wenn sie von enormer wirtschaftlicher Tragweite sind, natürliche Folge des Unterlassungsgebots sind. Anders als im Wettbewerbs- und Markenrecht erfasst der patentrechtliche Unterlassungsanspruch die patentgeschützte Vorrichtung selbst, so dass auch nur durch Einstellung des entsprechenden Vertriebs bzw. der entsprechenden Herstellung patentverletzender Vorrichtungen der Unterlassungsanspruch gebührend beachtet wird. Im Rahmen der Interessenabwägung führte der Bundesgerichtshof auch an, dass der Patentverletzer es versäumt hat, rechtzeitig um eine angemessene Lizenz bei dem Patentinhaber nachzusuchen. Der Fall „Wärmetauscher“ führt daher deutlich vor Augen, dass der Unterlassungsanspruch naturgemäß ein scharfes Schwert darstellt und die aus der Beachtung des Unterlassungsanspruchs resultierenden wirtschaftlichen Nachteile als systemkonform hinzunehmen sind.

Die Prozesssituation bei Non-SEPs ändert sich nicht, wenn an der Erzeugung der patentverletzenden Vorrichtung im Rahmen einer Lieferkette mehrere Unternehmen beteiligt sind. Jeder, der die patentverletzende Vorrichtung im Sinne von § 9 PatG benutzt, begeht eine Patentverletzung und kann von dem Patentinhaber unmittelbar auf Unterlassung wegen Patentverletzung in Anspruch genommen werden. Das gilt auch mit Blick auf die in der Regel komplizierten Liefer- und Verwertungsketten in der Automobilindustrie. Auch in dem „Wärmetauscher“-Fall hat der Automobilhersteller (Daimler) den Wärmetauscher bzw. „Luftschal“ von einem Zulieferer bezogen, der grundsätzlich auch unmittelbar in Anspruch genommen werden kann. Insoweit hat der Patentinhaber eines normalen Patentes, das keine kartellrechtliche Marktmacht vermittelt, die vollumfängliche Freiheit hinsichtlich der Auswahl des Unterlassungsschuldners. Er kann den Endhersteller oder den Zulieferer oder beide auf Unterlassung wegen Patentverletzung in Anspruch nehmen. Alle haften jeweils selbst auf Unterlassung und können gegebenenfalls gesamtschuldnerisch auch auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden, soweit sie die Patentverletzung infolge einer wechselseitigen Abstimmung realisiert haben. Dies ist in Lieferketten in der Automobilindustrie die Regel, weil der Zulieferer das zugelieferte Teil für das Endprodukt entsprechend den Vorgaben des Automobilherstellers fertigt, so dass alle Beteiligten an der Lieferkette Kenntnis von der Beschaffenheit der patentverletzenden Vorrichtung haben. Für alle an der Lieferkette beteiligten Unternehmen gilt, dass es auf die Frage der Mittäterschaft, Anstiftung und Beihilfe gemäß § 830 BGB nicht ankommt, weil alle gleichermaßen gesamtschuldnerisch gemäß § 830 BGB haften. Es kann also festgehalten werden, dass auch in komplizierten Verwertungsketten es dem Patentinhaber überlassen bleibt, ob er die gesamte Verwertungskette oder nur einige Mitglieder dieser Liefer- und Verwertungskette auf Unterlassung wegen Patentverletzung in Anspruch nimmt. Ebenfalls ist der Patentinhaber völlig frei in der Bestimmung, welchem Glied in der Liefer- und Verwertungskette er überhaupt eine (freiwillige) Lizenz erteilen möchte. Er kann dem Hersteller der kleinsten denkbaren Baueinheit eine Lizenz mit der Folge erteilen, dass die nachfolgenden Verwertungsstufen sich insoweit auf Erschöpfung berufen können. Er kann sein Wahlrecht aber auch derart ausüben, dass nur dem Endabnehmer eine Lizenz erteilt wird (auf freiwilliger Basis), so dass die vorgelagerten Verwertungsstufen in der Lieferkette unverändert Patentverletzungen begehen. Diese Auswahl- und Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Geltendmachung des Unterlassungsanspruches und auch die Erteilung einer etwaigen (freiwilligen) Lizenz ist natürlicher Ausfluss des dem Patentinhaber zustehenden Monopols.

2. Prozesssituation bei SEPs (FRAND-Einwand)

Die entscheidende Frage ist, ob sich die dem (normalen, nicht marktmächtigen) Patentinhaber zustehenden Rechte ändern, wenn es sich bei den Patenten um Standardessentielle Patente (SEPs) handelt. Standardessentielle Patente bzw. Standardwesentliche Patente sind solche Patente, die immer dann benutzt werden, wenn das Produkt den standardisierten Vorgaben entspricht. Standards sind im Bereich des Mobilfunks z.B. erforderlich, um die Interoperabilität der Geräte zu gewährleisten. Dies erfolgt z.B. in Europa unter der Regie der Standardisierungsorganisation ETSI. Zur Wahrung des Wettbewerbs verpflichten diese Standardisierungsorganisationen, die auch als Standard Setting Organisations (SSO) bezeichnet werden, die Patentinhaber, die Patente an den standardisierten Technologien halten, dazu, eine FRAND-Selbstverpflichtungserklärung abzugeben, die beinhaltet, dass der SEP-Inhaber (Patentinhaber) bereit ist, Lizenzen zu fairen, angemessenen und diskriminierungsfreien („fair, reasonable and non-discriminatory“), kurz: FRAND-Bedingungen zu erteilen. Die FRAND-Erklärung stellt insoweit das Korrektiv dazu dar, dass die Aufnahme eines Patents in eine standardisierte Technologie in der Regel dazu führt, dass dem SEP-Inhaber insoweit eine Marktmacht zuteil wird.

Aus der Marktmacht eines SEPs resultieren Besonderheiten für die Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs. Zwar haben die aus der Marktmacht resultierenden kartellrechtlichen Obliegenheiten keine direkten Auswirkungen auf den Unterlassungsanspruch, allerdings kann der Nutzer und Implementierer der standardisierten und zugleich patentgeschützten Technologie dem Unterlassungsanspruch einen kartellrechtlichen Anspruch auf Erteilung einer Lizenz entgegenhalten. Unter welchen Voraussetzungen der Interessenausgleich zwischen dem patentrechtlichen Unterlassungsanspruch des SEP-Inhabers und dem kartellrechtlich indizierten Anspruch des SEP-Benutzers auf eine FRAND-Lizenz vorzunehmen ist, hat der EuGH in der maßgeblichen Entscheidung „Huawei/ZTE“ festgelegt (EuGH GRUR 2015, 764 – Voraussetzungen für Lizensierungspflicht bei Standardessentiellen Patent – Huawei Technologies/ZTE) (siehe dazu auch Kellenter/Verhauwen, GRUR 2018, 761 – Systematik ohne Anwendung des kartellrechtlichen Zwangslizenzeinwandes nach „Huawei/ZTE“ und „Orange-Book“). Unter den von dem EuGH festgelegten Voraussetzungen kann daher dem patentrechtlichen Unterlassungsanspruch ein kartellrechtlicher Zwangslizenzeinwand bzw. FRAND-Einwand entgegengehalten werden. Allerdings hat der EuGH nur den Interessenwiderstreit zwischen SEP-Inhaber und Patentbenutzer behandelt, ohne die Interessen der Zulieferer in einer Zuliefer- und Verwertungskette überhaupt in den Blick zu nehmen, weil dies in der Auseinandersetzung Huawei/ZTE nicht entscheidungsrelevant war. In dem Huawei/ZTE-Fall des EuGH standen sich zwei Smartphone-Hersteller unmittelbar als „Endhersteller“ von standardisierten Smartphones und/oder Netzwerk-Teilen gegenüber. Hätte es sich daher bei dem Wärmetauscher-Fall um ein Standardwesentliches Patent gehandelt, so hätte der Automobilhersteller in diesem Fall gegebenenfalls unter Beachtung der von dem EuGH festgelegten Verhandlungsparametern dem Unterlassungsanspruch einen Zwangslizenzeinwand bzw. FRAND-Einwand entgegenhalten können.

Bei standardisierten Technologien ist die Interessenlage aber in Regel durchaus komplexer, weil technische Standards komplizierte Verwertungsketten schaffen. So steht zu Beginn einer Verwertungskette in der Regel die Herstellung eines Chips, auf dem die standardisierte Technologie neben vielen anderen standardisierten Technologien implementiert ist. Bei dem Chiphersteller handelt es sich um die so genannte Tier-3-Zuliefererstufe. Zugleich handelt es sich um die „Smallest Salable Patent Practicing Unit“ (SSPPU). Benutzungstechnische Relevanz erhält der entsprechende Chip für den Endverbraucher allerdings in der Regel nicht. Vielmehr wird der Chip weiterverarbeitet. Mit Blick auf die hier in Rede stehende Automobilindustrie bezüglich „Connected Cars“ wird dieser Chip, der die gängigen Telekommunikationsstandards wie LTE oder 5G verwirklicht, an einen Tier-2-Zulieferer ausgeliefert, der diesen Chip in ein „Network Access Device“ NAD weiterverarbeitet. Der Tier-2-Zulieferer liefert das NAD dann an den Tier-1-Zulieferer, der das NAD in ein „Telematic Control Unit“ (TCU) weiterverarbeitet. Der Tier-1-Zulieferer des TCU beliefert sodann den Automobilhersteller als Endhersteller, der die TCUs ohne jegliche Weiterbearbeitung in die Autos einbaut. Jeder Zulieferer benutzt die Erfindung des Standards im Sinne einer ausschließlich dem SEP-Inhaber vorbehaltenen Weise gemäß § 9 PatG. Gegen jede Zuliefererstufe kann der SEP-Inhaber daher patentrechtliche Verletzungs- und Unterlassungsansprüche geltend machen. Der patentrechtliche Unterlassungsanspruch richtet sich gegen jeden, der die patentgeschützte Technologie benutzt, unabhängig davon, ob sie zugleich Bestandteil einer standardisierten Technologie ist. Stellt daher der Chiphersteller einen patentverletzenden Chip her, so sind alle nachfolgenden Verwertungs- und Vertriebsstufen in der Verwertungs- und Zuliefererkette betroffen und begehen jeweils für sich auch eine Patentverletzung. Das führt in der Konsequenz dazu, dass der SEP-Inhaber nicht nur den Chiphersteller, sondern vor allen Dingen auch, oder auch nur den Autohersteller auf Unterlassung in Anspruch nehmen kann, der seine Autos mit Patentverletzenden TCUs, in denen der patentverletzende Chip enthalten ist, bestückt. Die entscheidende Frage ist daher, ob sich ein Autohersteller auf den Lizensierungsanspruch bzw. FRAND-Anspruch eines Lieferanten z.B. des Chipherstellers bzw. Chipzulieferers oder des Herstellers des NAD oder der TCU berufen kann. Anders formuliert: Soll der SEP-Inhaber nur den Chiphersteller bzw. einen der anderen Zulieferer auf Unterlassung in Anspruch nehmen können?

Diese Fragen sind von entscheidender Bedeutung für den SEP-Inhaber, weil die Lizenzobjekte in der Wertschöpfungskette jeweils einen anderen Wert verkörpern, der maßgeblich für die Bestimmung der Lizenzbezugsgröße ist. So führt eine 1 %-ige Lizenz bei einem Chip mit einem Kaufpreis von 10,00 € zu einer Lizenz von 10 Cent. Bezieht sich der 1 %-ige Lizenzanspruch jedoch auf das TCU zu einem (virtuellen) Stückpreis von 100,00 €, so führt dies bereits zu einer Lizenz von 1,00 €. Noch einmal anders und deutlich werthaltiger stellen sich die Lizenzansprüche bezüglich des Endproduktes in Gestalt eines fertigen Automobils dar. Denn in einem Automobil könnte der Wert für die „Konnektivität“ mit 500,00 € veranschlagt werden, was zu einer Lizenz von 5,00 € führen würde. Je höher man in die Zuliefererkette zur Quelle zurückgeht, desto geringer fallen die Lizenzansprüche des SEP-Inhabers aus.

Der SEP-Inhaber hat daher naturgemäß ein Interesse daran, die Endstufe in einer Verwertungs- und Zuliefererkette in Anspruch zu nehmen, weil dort die werthaltigste bzw. größte „Bezugsgröße“ für patentrechtliche Patentverletzungsansprüche verwirklicht wird. Hingegen hat das letzte Glied in der Zuliefer- und Verwertungskette in Gestalt des Endherstellers ein Interesse daran, die Lizensierung möglichst auf das erste Glied in der Zuliefererkette zu verlagern, damit alle nachfolgenden Verwertungsstufen in der Zulieferer- und Verwertungskette in den Genuss der Erschöpfung kommen können.

3. Die SEP-FRAND-Kernfragen

Aus dem vorstehend geschilderten Interessenwiderstreit zwischen SEP-Inhaber und den Beteiligten einer Verwertungs- und Zuliefererkette ergeben sich zwei SEP-FRAND-Kernfragen:

  1. Kann der SEP-Inhaber ohne Verstoß gegen seine Verpflichtung zur Lizensierung seiner SEPs zu fairen, vernünftigen und diskriminierungsfreien Bedingungen (FRAND) frei und allein entscheiden, auf welcher Stufe der Produktions-, Liefer- und Verwertungskette er eine Lizenz anbietet oder verweigert? Hat mithin der SEP-Inhaber ein volles Auswahl- und Selektionsrecht?
  2. Kann der Patentnutzer auf der letzten Verwertungsstufe (OEM) den FRAND-Einwand darauf stützen, dass der Patentinhaber einem Vorlieferanten (Tier-1 oder Tier-2) unter Verstoß gegen seine Lizensierungsverpflichtung eine Lizenz verweigert hat?

Diese Fragen kommen exemplarisch in dem Fall „Nokia vs. Daimler“ zum Tragen, in dem Nokia wegen der Verwendung verschiedener standardisierten Technologien (LTE, 5G) Daimler wegen des Vertriebs vernetzter Autos (Connected Cars) aus zehn Patenten (SEPs) auf Unterlassung in Anspruch nimmt. Der Automobilhersteller Daimler wird in diesen Verfahren vor den Landgerichten Düsseldorf, Mannheim und München wegen Patentverletzung unter anderem auf Unterlassung in Anspruch genommen, weil in seinen Fahrzeugen so genannte Telekommunikationseinheiten (TCUs) verbaut werden, die den Zugriff auf die gängigen Mobilfunkstandards ermöglichen. Dabei will Nokia nur dem Automobilhersteller Daimler und nicht den Zulieferern der allein patentverletzenden TCUs eine (Pool-)Lizenz seines Pool-Verwerters Avanci gewähren. Dahingegen ist Daimler an einer unmittelbaren Pool-Lizensierung seitens Nokia bzw. Avanci nicht interessiert und verweist darauf, dass für die Lizensierung ausschließlich ihre Zulieferer, insbesondere der TCUs, verantwortlich sind. Denn Daimler würde die TCUs lediglich als „Blackbox“ von einschlägigen Zulieferern beziehen. Dahingegen ist Nokia bzw. der Poolverwerter Avanci nicht bereit, den Zulieferern eine vollumfängliche Pool-Lizenz zu gewähren. Kern dieser presseträchtigen Auseinandersetzung ist daher, ob ein FRAND-konformes Verhalten vorliegt, wenn der SEP-Inhaber zumindest im Verhältnis der Automobilhersteller eine FRAND-Lizenz anbietet und damit mittelbar auch den Zulieferern einen Zugang zu der Technologie in Gestalt einer verlängerten Werkbank ermöglicht wird oder ob die Zulieferer gleichwohl einen vollumfänglichen Anspruch auf eine eigene, volle Lizenz haben mit der Folge, dass dann der Automobilhersteller keine weitere Lizenz benötigt, weil er sich auf Erschöpfung berufen kann.

II. Interessen und Argumente der Parteien

Zur Auflösung des Interessenwiderstreits zwischen dem (uneingeschränkten) Selektions- und Auswahlrecht des SEP-Inhabers und dem FRAND-Jedermannsrecht eines jeden SEP-Implementierers bzw. Benutzers auf Gewährung einer FRAND-Lizenz sind zunächst die Interessen und daraus resultierenden rechtlichen Argumente der Parteien, mithin des SEP-Inhabers (konkret Nokia), der OEMs (konkret Daimler) und der vorgelagerten Zulieferer (Tier-1, Tier-2 und Tier-3) in den Blick zu nehmen.

1. Die Interessen der SEP-Inhaber (hier: Nokia)

Zur Wahrung eines uneingeschränkten Selektions- und Auswahlrechts führen die SEP-Inhaber wie auch Nokia in der Auseinandersetzung gegen Daimler folgende Gesichtspunkte an:

Die SEP-Inhaber sind auf eine angemessene Vergütung für die Investitionen in die standardisierte Technologie angewiesen. Auch gebietet der Schutz geistigen Eigentums an den SEPs nach Art. 17 abs. 2 der Grundrechts-Charta der EU, dass der SEP-Inhaber nicht in seiner Auswahlfreiheit bzw. in seinem Selektionsrecht beschränkt werden soll. Auch das öffentliche Interesse an der Schaffung von Anreizen und für die Weiterentwicklung entsprechender Technologiestandards gebietet eine angemessene Vergütung der an der Standardisierung beteiligten Unternehmen für SEPs.

Auf der Grundlage dieser Interessenlage führen die SEP-Inhaber in erster Linie an, dass der SEP-Inhaber den Vorgaben der EuGH-Rechtsprechung Huawei/ZTE schon dann Genüge tut, wenn er überhaupt in der Verwertungs- und Zuliefererkette einer Partei und nicht allen Beteiligten eine Lizenz anbietet. Denn maßgeblich sei kartellrechtlich nur, dass überhaupt ein Zugang zu der patentgeschützten Technologie gewährt werde. Infolgedessen ist es ausreichend, dem OEM wie Daimler eine FRAND-Lizenz mit der Maßgabe anzubieten, dass den Zulieferern lediglich „have made“-Rechte im Sinne einer vorgelagerten Werkbank gewährt werden. Derart ist der Zugang zu der Benutzung der Technologie bereits gewährleistet. Mehr würde der EuGH in der Huawei/ZTE-Entscheidung nicht verlangen. Weil es gerade für die Beurteilung einer FRAND-konformen Lizenz auf die Gepflogenheiten in der einschlägigen Branche ankomme, sei maßgeblicher Gesichtspunkt auch, dass es in der Mobilfunkbranche üblich ist, die Lizensierung auf der letzten Verwertungsebene (OEM) vorzunehmen. Insoweit verweisen die SEP-Inhaber auf eine Parallele zu der Smartphone-Branche. Nicht der Chip-Hersteller, sondern der Smartphone-Hersteller bekommt die Lizenz. Genauso soll der OEM-Hersteller wie Daimler eine Lizenz nehmen und nicht der Chip- und/oder TCU-Zulieferer. Hinzu kommt der Gesichtspunkt, dass die Lizensierung einzelner Komponenten auf mehreren Ebenen der gleichen Verwertungskette rechtlich, wirtschaftlich sowie auch praktisch nicht umsetzbar ist. Nicht zuletzt führt die Lizensierung auf mehreren Ebenen mit gleichen Verwertungsketten zu der Gefahr überlappender Lizenzen im Sinne eines „Double Dipping“.

2. Die Interessen der OEMs (hier: Daimler)

Die OEMs verweisen auf die Gepflogenheiten in der Automobilzuliefererbranche, wonach die Lizenzvergabe in der Automobilindustrie nach ständiger Praxis auf Zuliefererebene erfolgt. Die OEMs erhalten somit die zugelieferten Komponenten frei von Rechten Dritter, wozu sich die Zulieferer auch vertraglich verpflichten. Eine Lizenzvergabe auf OEM-Ebene (hier Daimler) sei nicht effizient, weil OEMs die Schutzrechtslage schlechter beurteilen könnten als ihre Zulieferer, die die Teile selbst entwickeln und herstellen. Den OEMs fehle insoweit die technologische Deutungs- und Lizenzhoheit. Die ständige Lizenzvergabepraxis auf Zuliefererebene ergebe sich bereits aus der Komplexität des hier in Rede stehenden Produkts. Denn in der Regel bestehe ein Auto aus Tausenden von zugelieferten Teilen, für die die Zulieferer ausschließlich die patentrechtliche Verantwortlichkeit bezüglich der ausreichenden Lizensierung übernehmen, so dass bezüglich der hier streitgegenständlichen TCUs keine Ausnahme zu machen sei.

Die OEMs (Daimler) argumentieren, dass SEP-Inhaber wie Nokia durch die Verweigerung einer Volllizensierung ihrer Zulieferer sich kartellrechtswidrig verhalten. Denn SEP-Inhaber wie Nokia sind unmittelbar Normadressat des Art. 102 AEUV, §§ 18, 19 GWB. Gemäß Art. 102 AEUV, §§ 18, 19 GWB und aufgrund der FRAND-Selbstverpflichtung gegenüber ETSI sind SEP-Inhaber verpflichtet, jedem lizenzwilligen Nachfrager – also auch einschränkungslos den Zulieferern – eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen für die SEPs zu erteilen. Aus der Verweigerung der vollumfänglichen Lizensierung vorgelagerter Stufen der Produktionskette resultiert zugunsten des OEM bzw. Automobilherstellers ein abgeleiteter kartellrechtlicher Zwangslizenzeinwand. Nur durch eine vollumfängliche Lizensierung der vorgelagerten Stufen der Produktions- und Zuliefererkette sei eine Erschöpfung zugunsten des OEM bzw. Mobilherstellers gewährleistet.

3. Die Interessen der Zulieferer

Wird nur dem OEM-Hersteller bzw. Automobilhersteller eine vollumfängliche FRAND-Lizenz gewährt, so ist den Zulieferern selbst ein unabhängiger Marktauftritt verwehrt, weil ihre Rechte auf die Zuliefertätigkeit zugunsten des allein lizensierten Automobilherstellers beschränkt sind. Auch können die Zulieferer nur mit einer eigenen vollen Lizenz ihre Produkte frei weiterentwickeln. Bei einer Auftragsfertigung für OEMs im Wege von have made-Rechten hängen die Benutzungsrechte der Zulieferer von dem Fortbestand der Hauptlizenz der OEM-Ebene ab.

Auf der Grundlage dieser Interessenlage argumentieren die Zulieferer, dass ihnen ein Anspruch auf Erteilung einer eigenen, vollen Lizenz zusteht. Denn nur so werde der SEP-Inhaber seinen kartellrechtlichen Verpflichtungen und der FRAND-Selbstverpflichtung gerecht. Ohne Erteilung einer eigenen Lizenz seien die Zulieferer in ihrer unternehmerischen Freiheit aus Art. 16 der Grundrechts-Charta der EU beschränkt.

III. Lösungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

1. „License to All“-Konzept bzw. FRAND-Jedermannsrecht

Das „License to All“-Konzept entscheidet sich für eine kartellrechtlich gebotene Einschränkung der patentrechtlich grundsätzlich bestehenden Auswahlfreiheit des Patentinhabers. Danach soll jeder Verwertungsstufe in einer Verwertungs- und Zuliefererkette ein Lizensierungsanspruch auf eine FRAND-Lizenz zustehen. Nach dieser unter anderem von Kühnen vertretenen Doktrin (Kühnen GRUR 2019, 665 – FRAND-Lizenz in der Verwertungskette) ist diese Einschränkung des Auswahl- und Selektionsrechts des SEP-Inhabers schon deswegen geboten, weil nur so ein angemessener Interessenausgleich für die mit der Standardisierung einhergehenden Privilegierung des SEP-Inhabers geschaffen wird. Danach beinhaltet die FRAND-Erklärung die Verpflichtung, jedem Interessenten zu FRAND-Bedingungen eine Benutzungserlaubnis an dem SEP einzuräumen. Das License to All-Konzept kann mithin auch als FRAND-Jedermannsrecht bezeichnet werden (vgl. auch Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 13. Aufl. 2021, Kap. E, Rn. 299 und 491). Infolgedessen haben auch die Tier-3, Tier-2 und Tier-1-Zulieferer einen FRAND-Lizenzanspruch gegen den SEP-Inhaber mit der Folge, dass sich darauf auch der OEM-Hersteller im Wege des Drittlizenzeinwandes berufen kann. Zudem führt die tatsächliche Lizensierung vorgelagerter Zuliefererstufen dann zu einer Erschöpfung nachgelagerter Verwertungsstufen, insbesondere zugunsten des OEM-Herstellers. Als Ausgleich für dieses die Verwertungsstufen begünstigenden License to All-Konzepts vertritt Kühnen aber auch die Auffassung, dass die Lizenzgebühr sich nicht nach dem Wert des „Smallest Salable Patent Practicing Unit“ bemisst, also nicht nach dem kleinsten Chip des Tier-3-Zulieferers, sondern bei der Bemessung der Lizenzgebühr auch der erzielte Verkaufsgewinn auf den nachfolgenden Verwertungsstufen in den Blick zu nehmen ist. Denn nur so wird den Vergütungs- und Belohnungsinteressen des SEP-Inhabers ausreichend Rechnung getragen.

Das “License to All”-Konzept wurde im Übrigen auch schon im Zusammenhang mit den Smartphone-Patentschlachten befürwortet. So haben die Gerichte in der Vergangenheit bereits entschieden, dass ein SEP-Inhaber sich dann kartellrechtswidrig verhält, wenn er einem Smartphone-Hersteller eine FRAND-Lizenz verweigert und vielmehr den Vertriebspartner (Händler) des Smartphone-Herstellers auf Unterlassung in Anspruch nimmt. Infolge dessen kann sich der Händler des Smartphones erfolgreich auf den FRAND-Einwand berufen, wenn der Smartphone-Hersteller selbst lizenzbereit ist (OLG Karlsruhe GRUR-RR 2015, 326 – FRAND-Einwand des Händlers bei Lizenzbereitschaft des Herstellers von Mobiltelefonen; LG Düsseldorf, Urteil vom 31. März 2016 – 4a O 73/14, Rn. 269 ff. –, Juris).

2. „Access to All“-Konzept

Die gegenteilige Auffassung lässt sich unter dem Schlagwort „Access to All“-Konzept zusammenfassen, wonach der SEP-Inhaber verpflichtet ist, nur dem Endhersteller eine FRAND-Lizenz zu erteilen und es ausreichend ist, wenn den vorgelagerten Verwertungsstufen in der Zuliefererkette have made-Rechte erteilt werden. Auf diese Art und Weise ist eine Erschöpfung durch eine Lizensierung vorgelagerten Verwertungsstufen zugunsten des Endherstellers (ORM) ausgeschlossen. Nur so ist eine ausreichende Vergütung der SEP-Inhaber gewährleistet. Im Ergebnis haben sich die Landgerichte Mannheim und München in verschiedenen Entscheidungen für das License to All-Konzept zugunsten des SEP-Inhabers entschieden, jedenfalls aber zugunsten des Patentinhabers geurteilt.

In einem ersten entschiedenen Fall vom 18. August 2020 (Aktenzeichen 2 O 34/19) hat das Landgericht Mannheim in der Auseinandersetzung Nokia/Daimler einen abgeleiteten FRAND-Lizenzeinwand zugunsten von Daimler gegen Nokia abgelehnt. Konkret begründet hat das Landgericht Mannheim dies damit, dass der OEM (Daimler) schon nicht als ausreichend lizenzwillig im Sinne der EuGH-Rechtsprechung Huawei/ZTE zu qualifizieren ist, wenn der OEM den SEP-Inhaber wegen der Lizensierung auf seine Zulieferer verweist (dort Leitsatz 1). Nach dem dortigen Leitsatz 2 ist es dem SEP-Inhaber grundsätzlich überlassen auszuwählen, auf welcher Vertriebsstufe er seine Schutzrechte durchsetzen will. Insbesondere ist es nicht diskriminierend, wenn der SEP-Inhaber in dem hier relevanten Markt grundsätzlich bisher überhaupt keine Lizenzen an Zulieferer vergeben hat. Das Recht des Patentinhabers selbst zu entscheiden, gegen welchen Patentverletzer er vorgehen möchte, ist auch bei einer marktbeherrschenden bzw. marktmächtigen Stellung durch das Kartellrecht nicht per se beschränkt. Ferner führt das Landgericht Mannheim aus, dass unabhängig von der ausgewählten Vertriebsstufe die angemessene Beteiligung des SEP-Inhabers und damit letztendlich die Höhe der Lizenz stets am verkaufsfähigen Endprodukt auszurichten ist (dort Leitsatz 3). Eine Anknüpfung der Lizenzgebühr streng nach Wertkomponenten und somit am Preis der kleinsten technischen Einheit (Smallest Salable Patent Practicing Unit) führe dahingegen grundsätzlich zu einer Erschöpfung zulasten des SEP-Inhabers, so dass der SEP-Inhaber nicht mehr an den Benutzungsgewinnen für das Endprodukt beteiligt werden könnte. Insoweit verweist das Landgericht Mannheim auch auf den bereits vorstehend angeführten Aufsatz von Kühnen (GRUR 2019, 665 – FRAND-Lizenz in der Verwertungskette).

Offengelassen hat das Landgericht Mannheim aber, ob dem Hersteller eines verkaufsfähigen Endprodukts (OEM) grundsätzlich ein von seiner vorgelagerten Lieferkette abgeleiteter FRAND-Einwand zusteht (LG Mannheim, Urteil vom 18.08.2020, Aktenzeichen 2 O 34/19, Rn. 233). Ferner hat das Landgericht auch die Frage offengelassen, ob die Zulieferer einen Anspruch auf eine bilaterale Lizenz haben (so genanntes „License to All“-Konzept) oder aus Art. 102 AEUV sowie der Erklärung des SEP-Inhabers lediglich ein Anspruch auf Zugang zu der patentierten Technologie resultiert („Access to All“) (vgl. LG Mannheim, a.a.O., Rn. 253). Den abgeleiteten FRAND-Lizenzeinwand hat das Landgericht in dem konkreten Fall allerdings mit der Begründung abgelehnt, dass die Zulieferer jedenfalls sich nicht lizenzbereit erklärt haben, die Lizenzgebühr an dem wirtschaftlichen Nutzen der Technologie im verkaufsfähigen Endprodukt auszurichten.

Anzumerken ist noch, dass dieser Rechtsstreit inzwischen verglichen wurde. Zuvor hatte das OLG Karlsruhe jedoch die Einstellung der Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von € 75.000.000,00 wegen Beachtlichkeit eines FRAND-Gegenangebots von Daimler nach § 315 BGB eingestellt.

In die gleiche Richtung geht eine Entscheidung des LG München I vom 10. September 2020 (Aktenzeichen 7 O 8818/19). Dort hat das Landgericht München grundsätzlich einen abgeleiteten FRAND-Einwand abgelehnt. Insbesondere ist ein SEP-Inhaber trotz ETSI-Erklärung grundsätzlich nicht verpflichtet, Interessenten auf allen Ebenen zu lizensieren. Eine solche Verpflichtung ergebe sich weder aus dem Kartellrecht noch aus Patentrecht noch aus Vertragsrecht in Verbindung mit der ETSI-Erklärung. Es sei völlig ausreichend, überhaupt einen Zugang zu der Technologie in Gestalt von have made rights für die Zulieferer zu gewähren. Ferner beziehe sich die ETSI-FRAND-Erklärung nur auf Endprodukte, und nicht auf zugelieferte Einzelteile. Denn die ETSI-Erklärung verwendet ausschließlich die Formulierung „Equipments“ (dort Seite 51). Die have made rights seien völlig ausreichend zur Wahrung der Interessen der Zulieferer.

Eine weitere Entscheidung zugunsten von Nokia hat das Landgericht München I am 13. Oktober 2020 erlassen (Aktenzeichen 21 O 3891/19). Dort hat das Landgericht München Daimler bereits wegen fehlender Lizenzwilligkeit bei abgeleitetem FRAND-Einwand im konkreten Einzelfall verurteilt. Zwar könne eine Lizenzwilligkeit grundsätzlich auch bei Lizenzbereitschaftserklärung mit Wunsch einer Lizensierung auf Zuliefererebene vorliegen, was allerdings voraussetzt, dass der beklagte OEM offenlegt, welche Komponenten für die streitgegenständliche Technologie verbaut sind und von welchem Zulieferunternehmen sie stammen. Ein Verweis auf eine Lizensierung der Zuliefererebene ohne eine solche Offenlegung sei Ausdruck eines widersprüchlichen Verhaltens und daher treuwidrig. Der SEP-Inhaber handele hingegen nicht rechtsmissbräuchlich oder diskriminierend, wenn er zunächst nur einen Lizenzvertrag mit dem OEM als Endhersteller anstrebt. Grundsätzlich stehe dem SEP-Inhaber das Wahlrecht bzw. uneingeschränkte Selektionsrecht zu, auf welcher Vertriebsstufe er sein Schutzrecht durchsetzen möchte. Offengelassen hat das Landgericht München dagegen die grundsätzliche Frage, ob eine Lizensierung auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette nötig ist (License to All-Konzept) oder es genüge sicherzustellen, dass jedes Unternehmen in der Wertschöpfungskette die für die Herstellung seiner Produkte nötigen Rechte bekommt (Access to All). Jedenfalls in dem konkreten Fall genügt es, wenn die Zulieferer have made Rechte erhalten.

Auch diese Rechtsstreitigkeit ist inzwischen verglichen. Zuvor hatte das OLG München noch die erforderliche Sicherheitsleistung von € 18.000.000,00 auf 1,67 Mrd. € hochgesetzt.

IV. Vorlage an den EuGH

1. Stellungnahme des Bundeskartellamts

Noch bevor überhaupt ein erstes Urteil in der Auseinandersetzung Nokia/Daimler ergehen konnte, hat das Bundeskartellamt an alle drei Landgerichte eine gleichlautende Stellungnahme vom 18. Juni 2020 (Aktenzeichen P-66/20) verschickt. Die Stellungnahme des Präsidenten des Bundeskartellamts erfolgte auf der Grundlage von § 90 Abs. 2 Satz 1 GWG, um den Verletzungsgerichten entsprechende Erklärungen zukommen zu lassen. Insbesondere erfolgte die Übermittlung der schriftlichen Stellungnahme des Bundeskartellamts auf der Grundlage von Art. 15 Abs. 3 VO 1/2003, um als einzelstaatliche Wettbewerbsbehörde den Landgerichten des Mitgliedsstaates eine schriftliche Stellungnahme zur Anwendung von Art. 102 AEUV zu übermitteln.

In dieser Stellungnahme hat das Bundeskartellamt die jeweiligen Positionen der Parteien, mithin der Klägerin Nokia, der Beklagten Daimler sowie der Nebenintervenientin (Zulieferer) umfassend zusammengefasst. Im Ergebnis ist eine leichte Tendenz zugunsten des License to All-Konzeptes erkennbar. Zumindest hat das Bundeskartellamt die sich gegenüberstehenden Interessen als klärungsbedürftig derart erachtet, dass es Vorlagefragen an den EuGH mit der Maßgabe vorformuliert hat, dass die Landgerichte den EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens anrufen mögen. Insbesondere hat das Bundeskartellamt die Sorge geäußert, dass gerade bei tiefen Wertschöpfungsketten mit vielen Produktionsstufen zu erwarten ist, dass Unternehmen auf mehreren unterschiedlichen Stufen dieser Produktionskette Interesse an einer eigenen, vollen Lizenz des SEP-Portfolios haben. Liegt kein Lizenzvertrag zugunsten vorgelagerter Stufen vor, so hänge es von der Auswahlentscheidung des SEP-Inhabers ab, wen er als potentiellen Patentverletzer in Anspruch nimmt. Die Auswahl desjenigen, wem der SEP-Inhaber die Lizenz eines SEP-Portfolios anbietet, entscheidet dann im Ergebnis darüber, wer an dem Wettbewerb auf den dem Technologiemarkt nachgelagerten Produktmärkten überhaupt teilnehmen kann. Die Lizensierungspraxis des SEP-Inhabers ist daher ein wesentlicher gestaltender Faktor dafür, auf welcher Ebene in einer Produktionskette ein freier Markt zu wettbewerblichen Bedingungen entstehen kann. Dabei geht die Bedeutung der Streitsache Nokia/Daimler deutlich über den Einzelfall hinaus, weil die Fragen auch die Entwicklung neuer Produkte und künftiger Märkte schlechthin betreffen. Von dem Selektionsrecht des SEP-Inhabers hängt ab, ob die Zulieferer von Vernetzungsmodulen im Wettbewerb frei weiterentwickeln können, insbesondere neue Märkte erschließen oder bestehende Märkte fortentwickeln können. Die zunehmend vielfältigen Einsatzmöglichkeiten vernetzender Komponenten in diversen Branchen erhält zunehmende Bedeutung in der „Industrie 4.0“ oder in dem „Internet auf Things“ (IoT). Die Verwendung bzw. Weiterentwicklung von Standardtechnologien ist in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfrage, die die nachfolgend vorformulierten Vorlagefragen des Bundeskartellamts gebieten:

  1. Kann ein Unternehmen einer nachgelagerten Wirtschaftsstufe der auf Unterlassung oder Rückruf gerichteten Patentverletzungsklage des Inhabers eines für einen von einer Standardisierungsorganisation normierten Standard essenziellen Patents,
    der sich gegenüber dieser Organisation unwiderruflich verpflichtet hat, jedem Dritten eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, den Einwand entgegen halten, dass die Klage als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung i.S.v. Art. 102 AEUV anzusehen sei,
    weil die patentierte Technologie lediglich in einem von ihm be¬zogenen Vorprodukt verwendet wird, dessen Lieferant für des¬sen Herstellung seinerseits vergeblich beim Patentinhaber um eine eigene uneingeschränkte Lizenz zu FRAND-Bedingungen nachgesucht hatte?
  2. Stellt Art. 102 AEUV besondere qualitative, quantitative und/oder sonstige Anforderungen an die Kriterien, nach denen der Inhaber eines standardessentiellen Patents, der sich gegenüber einer Standardisierungsorganisation verpflichtet hat, Dritten eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, entscheidet, welche potenziellen Patentverletzer unterschiedlicher Ebenen der gleichen Produktionskette er mit einer auf Unterlassung oder Rückruf gerichteten Patentverletzungsklage in Anspruch nimmt?
  3. Missbraucht der Inhaber eines standardessentiellen Patents, der sich gegenüber einer Standardisierungsorganisation verpflichtet hat, Dritten eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, seine marktbeherrschende Stellung, wenn er sich weigert, jedem lizenzwilligen Marktteilnehmer in der gleichen Produktionskette eine eigene, volle Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen?
    1. Gilt dies jedenfalls dann, wenn er sich weigert, mehr als einer anderen als der Endproduktestufe in der gleichen Produktionskette eine eigene, volle Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen?
    2. Gilt dies jedenfalls dann, wenn er Marktteilnehmern einer vorgelagerten Produktionsstufe eine eigene volle Lizenz verweigert und die nachgelagerte Produktionsstufe der gleichen Produktionskette mit einer auf Unterlassung oder Rückruf gerichteten Patentverletzungsklage in Anspruch nimmt?
  4. Falls die Fragen zu 1. bis 3. zu verneinen sind: Ist der Inhaber eines standardessentiellen Patents, der sich gegenüber einer Standardisierungsorganisation verpflichtet hat, Dritten eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, kartellrechtlich frei in der Wahl, ob und welcher Stufe in einer Produktionskette er ausschließlich eine direkte, volle Lizenz zu FRAND-Bedingungen erteilt?
2. Vorlagebeschluss des Landgerichts Düsseldorf vom 26. November 2020 (Az. 4 O 17/19)

Das auch mit dem Streitfall Nokia/Daimler befasste Landgericht Düsseldorf hat die von dem Bundeskartellamt vorformulierten und angeregten Vorlagefragen zum Anlass genommen, diese dem EuGH vorzulegen.

Dabei hat sich das Landgericht Düsseldorf für das License to All-Konzept entschieden und das Access to All-Konzept abgelehnt. Es bestehe ein öffentliches Interesse an der Erhaltung des freien Wettbewerbs sowohl auf dem bereits durch die Standardisierung geschwächten Markt für TCUs als auch auf anderen Märkten. Nur bei unbeschränkter Lizensierung könnten Zulieferer TCUs selbstständig weiterentwickeln, an verschiedene Autohersteller vertreiben und auch neue Märkte außerhalb der Automobilindustrie erschließen.

Dabei sei auch die gelebte Praxis der Automobilindustrie von Bedeutung, wonach die Zulieferer für die Lizensierung Sorge zu tragen haben. Nicht zuletzt kennen die Zulieferer die Technik am besten und können die Rechtslage für jeweils zugelieferten Teile am besten überblicken und bewerten.

Im Ergebnis hat das Landgericht jedem Zulieferer grundsätzlich einen kartellrechtlichen Lizensierungsanspruch zuerkannt. Verweigert der marktbeherrschende SEP-Inhaber die Lizensierung eines Zulieferers, verhalte er sich missbräuchlich, so dass der OEM sich auf einen abgeleiteten FRAND-Einwand in kartellrechtswidriger Lizenzverweigerung der Zulieferer berufen kann.

Die Vorlagefragen im Original (nur aus dem Komplex A) lauten wie folgt:

  1. Besteht eine Pflicht zur vorrangigen Lizenzierung von Zulieferern?
    1. Kann ein Unternehmen einer nachgelagerten Wirtschaftsstufe der auf Unterlassung gerichteten Patentverletzungsklage des Inhabers eines Patents, das für einen von einer Standardisierungsorganisation normierten Standard essentiell ist (SEP) und der sich gegenüber dieser Organisation unwiderruflich verpflichtet hat, jedem Dritten eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, den Einwand des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung i.S.v. Art. 102 AEUV entgegenhalten, wenn der Standard, für den das Klagepatent essentiell ist, bzw. Teile desselben bereits in einem von dem Verletzungsbeklagten bezogenen Vorprodukt implementiert wird, dessen lizenzwilligen Lieferanten der Patentinhaber die Erteilung einer eigenen unbeschränkten Lizenz für alle patentrechtlich relevanten Nutzungsarten zu FRAND-Bedingungen für den Standard implementierende Produkte verweigert?
      1. Gilt dies insbesondere dann, wenn es in der betreffenden Branche des Endproduktevertreibers den Gepflogenheiten entspricht, dass die Schutzrechtslage für die von dem Zulieferteil benutzten Patente im Wege der Lizenznahme durch die Zulieferer geklärt wird?
      2. Besteht ein Lizenzierungsvorrang gegenüber den Zulieferern auf jeder Stufe der Lieferkette oder nur gegenüber demjenigen Zulieferer, der dem Vertreiber des Endprodukts am Ende der Verwertungskette unmittelbar vorgelagert ist? Entscheiden auch hier die Gepflogenheiten des Geschäftsverkehrs?
    2. Erfordert es das kartellrechtliche Missbrauchsverbot, dass dem Zulieferer eine eigene, unbeschränkte Lizenz für alle patentrechtlich relevanten Nutzungsarten zu FRAND-Bedingungen für den Standard implementierende Produkte in dem Sinne erteilt wird, dass die Endvertreiber (und ggf. die vorgelagerten Abnehmer) ihrerseits keine eigene, separate Lizenz vom SEP-Inhaber mehr benötigen, um im Fall einer bestimmungsgemäßen Verwendung des betreffenden Zulieferteils eine Patentverletzung zu vermeiden?
    3. Sofern die Vorlagefrage zu 1. verneint wird: Stellt Art. 102 AEUV besondere qualitative, quantitative und/oder sonstige Anforderungen an diejenigen Kriterien, nach denen der Inhaber eines standardessentiellen Patents darüber entscheidet, welche potenziellen Patentverletzer unterschiedlicher Ebenen der gleichen Produktions- und Verwertungskette er mit einer auf Unterlassung gerichteten Patentverletzungsklage in Anspruch nimmt?

Nachträglicher Hinweis der Autoren: Im Juni 2021 haben sich Nokia und Daimler umfassend verglichen, wie entsprechenden Pressemitteilungen zu entnehmen ist. Die Rechtsstreite zwischen Nokia und Daimler bei den Landgerichten Düsseldorf, Mannheim und München bzw. in der Berufungsinstanz bei dem OLG Karlsruhe und dem OLG München sind daher nicht mehr anhängig. Das gleiche gilt für das Vorlageverfahren vor dem EuGH. Die Frage der Lizenzierungspflicht von SEPs in der Liefer- und Verwertungskette wird daher in diesem Streitkomplex nicht entschieden werden und bleibt somit vorläufig offen.



Weiterführende Literatur der beiden Autoren zum FRAND- bzw. kartellrechtlichen Zwangslizenzeinwand:

  • Kellenter/Verhauwen, GRUR 2018, 761 – Systematik und Anwendung des kartellrechtlichen Zwangslizenzeinwandes nach „Huawei/ZTE“ und „Orange-Book“;
  • Verhauwen GRUR 2013, 558 – Goldener Orange-Book-Standard am Ende?
  • Gerstein/Verhauwen, GRUR-Prax 2020, 362 – Zur Pflicht der Lizensierung Standardessentieller Patente in der Liefer- und Verwertungskette: Selektionsrechte des SEP-Inhabers vs. FRAND-Jedermannsrecht
  • Kellenter, in: Festschrift 80 Jahre Patentgerichtsbarkeit in Düsseldorf, 2016, S. 255 – Der FRAND-Einwand im Patentverletzungsprozess nach der EuGH-Entscheidung Huawei/ZTE
  • Kellenter, Festschrift für Peter Mes, 2009, S. 199 – Der FRAND-Einwand im Patentverletzungsprozess.

 

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Dr. Wolfgang Kellenter ist Rechtsanwalt und Partner der Kanzlei Hengeler Mueller in Düsseldorf. Er berät und vertritt Unternehmen in sämtlichen Fragen des Gewerblichen Rechtsschutzes. Sein Tätigkeitsschwerpunkt liegt auf Patentverletzungsverfahren.

Axel Verhauwen ist Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Krieger Mes & Graf v. der Groeben in Düsseldorf. Er berät im gesamten Spektrum patentrechtlicher Auseinandersetzungen, wobei ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit auf Patentverletzungsprozessen liegt.

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